Iskitim - eine Sibirienreise mit und ohne Happy End

Von Werner Laube

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     Meine ersten russischen Briefpartnerinnen hießen Walja und Inna. Beide lebten in Iskitim, einem Ort südlich von Nowosibirsk, und gingen dort noch zur Schule. Ihre Briefe mit den bunten, fremden Marken und den kyrillischen Schriftzeichen brachten so etwas wie einen Lichtschein in meinen eintönigen Alltag als Dorfjunge und Stellmacherlehrling und verliehen mir neue, unerwartete Impulse. Sie regten mich an, mein dürftiges Schulrussisch wieder aufzufrischen, sowjetische Bücher zu lesen und Filme aus diesem Land anzugucken. Und irgendwann - Walja hatte inzwischen die Lust am Briefwechsel verloren - verliebte ich mich in das Mädchen Inna. Ich schrieb ihm seitenlange Briefe, malte sein Porträt und schickte ihm selbst verfasste Gedichte. Mein platonisches Liebesglück währte Jahre; und Innas Briefe begleiteten mich über neue Arbeitsorte auch in eine Kaserne der NVA.
     Natürlich wollte ich meine russische Freundin auch persönlich kennen lernen, doch einen Weg ins ferne Sibirien fand ich damals nicht. Gruppenreisen nach Sibirien gab es 1962 für DDR-Touristen noch keine, und eine Privatreise dorthin war 17 Jahre nach dem Krieg kaum denkbar. Die konnte man, erfuhr ich erst später, nur mit einer persönlichen Einladung durch sowjetische Bürger unternehmen.
     Im Sommer 1965 war es endlich so weit. Zu meiner großen Freude hatten mir Innas Eltern diese Einladung geschickt, und wider alle Zweifel war auch mein Visa-Antrag nebst russisch verfasster Biografie nach Monaten bangen Wartens positiv beschieden worden. Nun galt es, weitere Hürden dieser Zeit zu meistern. Bei INTERFLUG konnte ich nur ein Ticket bis Moskau buchen. Erst dort sollte ich einen Reisescheck beim sowjetischen INTOURIST einlösen und nähere Details meines Weiterflugs nach Nowosibirsk erfahren. Bis dahin konnte ich auch meinen russischen Freunden weder Tag noch Uhrzeit meiner Ankunft nennen. Auf dem Inlandflughafen Wnukowo erwartete mich als Ausländer eine neue Herausforderung: Allein der Blick auf die elektronischen Anzeigetafeln mit dem weit verzweigten Flugnetz in der Sowjetunion machte mir die gewaltigen Dimensionen des Landes deutlich. Die „Iljuschin -18“, die ich dann bestieg, sollte über Tscheljabinsk, Nowosibirsk, Irkutsk und Tschita bis nach Magadan im fernen Osten fliegen und dabei acht Zeitzonen überwinden! Schwieriger als das Lesen der Anzeigetafeln war für mich das Verstehen der Lautsprecherdurchsagen in russischer Sprache. Nur erneutes Fragen bei anderen Reisenden bewahrte mich davor, den Abflug meines Flugzeugs zu verpassen. Stunde um Stunde flog ich nun in Richtung Osten. Mit jeder Minute entfernte ich mich mehr und mehr von der Heimat, kam aber zugleich auch meiner Liebe ein Stück näher. Fast alle Passagiere schliefen schon, doch ich machte die ganze Zeit vor lauter Aufregung kein Auge zu. So erlebte ich auch den Aufgang der Sonne. Sie strahlte die eisigen Tragflächen von unten her rötlich an, während der Mond deren Oberseite in zartes Blau hüllte. Sein Licht spiegelte sich zehntausend Meter unter uns auch in den zahlreichen Seen der westsibirischen Tiefebene wider. Als es hell geworden war, bemerkte ich, dass unser Flieger den Gleisen der Transsibirischen Eisenbahn folgte. Dort jagte in nur kurzem Abstand ein Zug dem anderen hinterher. Fünf Stunden nach ihrem Start in Moskau landete die Maschine in Tolmatschewo.
     Einsam und ratlos stand ich mit meinem Gepäck da, denn niemand war zu meinem Empfang erschienen. Es war ja noch früh am Morgen, und Inna hatte mein Telegramm aus Moskau wohl noch nicht erhalten. Ich hatte einfach keine Vorstellung von der Weite und den Verkehrsverhältnissen dieses Landes. So traf ich nach vier Stunden ungeduldigen Wartens eine Entscheidung, die mir und meinen Gastgebern noch viel Kummer bereiten sollte: Dem Rat meines Sitznachbarn im Flugzeug folgend, der mir die einfachsten Busverbindungen dorthin erklärt hatte, machte ich mich selbst auf den Weg nach Iskitim! Die 50 Kilometer lange Fahrt mit dem Zubringer bis zum Busbahnhof von Nowosibirsk klappte ja noch ganz gut, doch dann erlebte ich das wahre Chaos. Es gab dort weder Anzeigetafeln mit Abfahrtszeiten noch eine Bezeichnung der Haltestellen. Selbst ein „Sprawotschnoje“, ein Auskunft-Büro, suchte ich vergebens. Auf den ersten Blick wirkten die Sibirjaken nicht gerade freundlich; auch die Hilfsbereitschaft gegenüber Fremden, die ich aus Moskau kannte, vermisste ich hier. Fast alle Busse, die vor mir anhielten, zeigten Akademgorodok, die Stadt der Wissenschaft am Obsker Meer, als Fahrtziel an. Einen Bus nach Iskitim konnte ich einfach nicht entdecken. Bei 37° Hitze schleppte ich meinen Zwanzig-Kilo-Koffer am Ufer des Ob umher und war so verzweifelt, dass ich am liebsten zum Flugplatz zurückgekehrt wäre. Vom Hauptbahnhof der Stadt, zu dem ich mich am Ende durchschlug, fuhr erst am Nachmittag ein Zug nach Iskitim. Dort bot mir ein Pärchen an, mich vom Bahnhof zum Haus meiner Gastgeber zu begleiten.
     Schon nach 200 Metern trafen wir eine Frau aus diesem Haus, die von meinem Kommen wusste und sogleich die Führung übernahm. Von Innas Familie war nur die Oma zu Hause - alle anderen waren zu meiner Begrüßung zum Flugplatz gefahren! Vom ersten Schreck erholt, bewirtete mich die Babuschka erst mal und bot mir ein Glas Tee und ein Schüsselchen mit Warenje an. Ich hielt die Konfitüre für Kompott und kostete ein Löffelchen davon. Sie war furchtbar süß. „Nu, kuschai!“, ermunterte mich die gute Frau zum Essen, und weil man einen Gastgeber nicht beleidigen darf, löffelte ich tapfer die ganze Kompottschüssel leer. Zwei Nachbarsmädchen, die mir beim Essen zugeschaut hatten, amüsierten sich köstlich über den verfressenen Deutschen. Erst am Abend, als die ganze Familie wieder glücklich vereint ihren Tee trank und mit Warenje süßte, begriff ich meinen Fauxpas und wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Auch wenn ich Innas Herz damals nicht erobern konnte, war mein Besuch in Iskitim, menschlich gesehen, ein großer Gewinn für mich.
     Als ich nach zwei Wochen abreiste, haben mich dreizehn Leute zum Bahnhof begleitet - sibirische Gastfreundschaft, die man erst auf den zweiten Blick erkennt.