Vom Neißedorf nach Afrika
Von Werner Laube
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Als Schüler der achten Klasse unserer Grundschule im Neißedorf P. erhielt ich das Angebot, die Sorbische Oberschule in Cottbus zu besuchen.
Die Vorstellung, noch weitere vier Jahre die Schulbank drücken zu müssen, behagte mir gar nicht,
doch es gab noch andere, gewichtigere Gründe, diese, für mich als Dorfjungen, einmalige Chance auszuschlagen.
Meine Mutter, Kriegsflüchtling und Bäuerin mit Leib und Seele, war zwei Jahre zuvor an Krebs erkrankt,
und ihr Leben hing nach mehreren Bestrahlungen und Operationen noch immer am seidenen Faden.
Vater aber, ein früherer Bergmann, Landarbeiter und Traktorist, hatte dreizehn Jahre nach dem Krieg Mühe,
unsere Neubauernwirtschaft ohne Technik und fremde Hilfe allein weiterzuführen und
„nebenbei“ noch fünf Söhne zwischen vier und siebzehn Jahren zu versorgen.
Täglich, vom Frühjahr bis zum Herbst, mussten für acht Rinder und das Pferd Grünfutter mit der Sense gemäht
und mit dem Ackerwagen herangeschafft, die Kühe gemolken und ihre Milch morgens in 20-Liter-Kannen zur Rampe gebracht werden.
Dazu galt es, je nach Jahreszeit, Äcker und Wiesen zu bestellen, Heu und Getreide zu ernten und zu dreschen - Tätigkeiten,
bei denen jede Hand gebraucht wurde, auch die der Kinder.
In der Erntezeit gingen wir mit dem Ranzen direkt von der Schule zum Heumachen auf die Wiese,
wendeten oder harkten das getrocknete Gras zu Haufen und trugen anschließend bis zum Finsterwerden noch Roggen- und Hafergarben zusammen,
um diese grannenstachligen, für Kinder übermannshohen Gebinde zu Puppen aufzustellen.
Zu müde, um noch etwas essen zu können, fielen wir abends ins Bett und gingen am nächsten Tag oft ohne erledigte Hausaufgaben
zu Fuß zur drei Kilometer entfernten Schule.
Mein ältester Bruder erlernte da schon den Beruf eines Maurers und wohnte die Woche über im Lehrlingswohnheim.
Da auch mein Oberschulbesuch in Cottbus mit einem Internatsaufenthalt verknüpft gewesen wäre,
hätten meine Eltern auf eine weitere Arbeitskraft verzichten müssen.
Das konnten sie nicht, doch eine Lehre sollte auch ich absolvieren - am besten in einem Handwerksberuf.
Schon als Schüler zog es mich immer wieder in die Dorftischlerei, wo mir der freundliche Meister manchmal
ausgeschlitzte Brettchen zum Basteln schenkte, die beim Bau von Türen angefallen waren.
In einer privaten Stellmacherei in M. erhielt ich nach Verlassen der Grundschule auch eine Lehrstelle,
doch mein Kindheitstraum vom Holzhandwerk wurde hier zum Alptraum.
Statt in Cottbus morgens bequem und auf kurzem Wege vom Internat zur Oberschule zu gelangen,
radelte ich als Vierzehnjähriger nun täglich elf Kilometer nach M. und zurück, denn einen öffentlichen Busverkehr
dorthin gab es damals noch nicht. Zur Berufsschule in W. war es noch weiter,
und weil ich der einzige Stellmacherlehrling im Kreis war, musste ich einmal pro Woche zum Fachunterricht nach Cottbus.
Damit ich dort pünktlich zum Schulbeginn eintraf, galt es in M. den Fünf-Uhr-Zug zu erreichen – egal,
ob es regnete, stürmte oder schneite. Das hieß, schon morgens um drei Uhr aufstehen; und abends,
nach Werkstattarbeit oder Berufsschule, ging es in der elterlichen Wirtschaft munter weiter.
Bedrückender als die ungewohnten körperlichen Strapazen war für mich das unterwürfige,
halbfamiliäre Arbeitsklima in meinem Ausbildungsbetrieb, dem ich als Neuling hilflos ausgeliefert war.
Ein „Stift“ musste hier die fragwürdigsten Arbeiten verrichten und obendrein noch dümmliche Späße des Meisters,
der Gesellen und älteren Lehrlinge über sich ergehen lassen. Wehrte er sich dagegen,
hatte er fortan nichts mehr zu lachen. Was ich in der Berufsschule über Kapitalismus und Ausbeutung erfuhr,
erlebte ich in meinem Lehrbetrieb täglich in der Praxis.
Das weckte Widerspruch in mir, aber auch politisches Interesse. Schon früh hatte mich mein Grundschullehrer zum Lesen angeregt;
und als mir das Angebot unserer Bücherstube im Dorf nicht mehr genügte, schrieb ich mich als Leser der Kreisbibliothek ein.
Besonders sowjetische Bücher und Filme interessierten mich, und regelmäßig hörte ich die deutschsprachigen Sendungen von Radio Moskau.
In meiner Lehrwerkstatt aber wurde RIAS gehört! Irgendwann erklärte mir der Meister, ein ausgesprochener DDR-Hasser,
ganz offen, dass ich bei ihm meine Gesellenprüfung nicht bestehen würde!
Für mich brach eine Welt zusammen, und selbst die Berufsschule interessierte mich nicht mehr.
Doch ich hatte Glück: Durch die Vermittlung der zuständigen Leute beim Rat des Kreises erhielt ich in der
Stellmacherei eines Volksgutes bei F. eine neue Lehrstelle, wo ich mein drittes Ausbildungsjahr abschließen konnte.
Dort wohnte ich mit gleichaltrigen Lehrlingen für Feldbau und Viehzucht im Internat zusammen und erfuhr die Arbeit
und meine soziale Anerkennung in diesem staatlichen Betrieb auch als persönlichen Fortschritt.
Als ich ein Jahr später meinen Gesellenbrief mit der Note „sehr gut“ im praktischen Teil in den Händen hielt,
empfand ich neben ehrlicher Freude auch ein Gefühl der Genugtuung.
Noch am selben Tag fuhr ich zu meinem früheren Lehrmeister nach M. und hielt ihm das Zeugnis unter die Nase.
Sechs Jahre danach half mir mein guter Gesellenbrief, neben neuen Berufserfahrungen als Zimmermann in Schwarze Pumpe,
als Entwicklungshelfer der Freien Deutschen Jugend für lange Zeit nach Mali zu reisen.
Dort wurden außer Landwirten auch erfahrene Handwerker gebraucht, und ich bezweifle, dass ich als Slawist,
als Sorbischlehrer oder als Literaturwissenschaftler damals nach Afrika gekommen wäre.
Meiner verpassten Chance in der achten Klasse trauerte ich schon längst nicht mehr nach.