Mein Traum von Spitzbergen
Von Werner Laube
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Als Bauernjunge in der Oberlausitz träumte ich davon, Seemann zu werden. Ein ausgedientes
Jauchefass, auf dem ich mit Nachbarskindern über das Wasserloch nahe unserem Dorfe paddelte,
war mein erstes Schiff. Mein alter Lehrer Karl Gaedecke hatte mir ein Buch über berühmte
Weltumsegler geborgt und damit meine Liebe zur Seefahrt und zur Literatur geweckt.
Später, als ich die spannenden Erzählungen der Arktiskapitäne Willem Barents, Fritjof Nansen und Roald Amundsen verschlang,
hieß das Zauberwort meiner Träume Spitzbergen.
Eine Chance, als DDR- Bürger dorthin zu kommen, sah ich kaum. Bewerbungen bei der Fischereiflotte und bei der Handelsmarine
hatte ich irgendwann zugunsten eines Afrikaeinsatzes in einer FDJ- Freundschaftsbrigade aufgegeben, meinen Traum von Spitzbergen aber nicht.
Neue Hoffnung, ihn doch noch realisieren zu können, schöpfte ich an der Kunsthochschule Weißensee.
Während eines Studentenaustauschs mit dem Muchina-Institut in Leningrad schloss ich mit dem Maler und Hochschullehrer Jegor Prikot Freundschaft.
Bei einem Besuch mit meiner Frau und unseren kleinen Töchtern in seiner Heimatstadt zeigte uns Jegor auch Aquarelle,
die er auf früheren Reisen nach Spitzbergen gemalt hatte.„Da musst du hin!“, sagte ich mir damals, die Frage war nur wie?
Dass es auf dem arktischen Archipel, der seit 1925 zu Norwegen gehört, zwei sowjetische Siedlungen gab, wusste ich.
Dort wohnten die Bergleute der Steinkohleminen Barentsburg und Pyramiden.
Sowjetische Schiffe und Flugzeuge versorgten sie mit allem Lebensnotwendigem,
und insgeheim hoffte ich, mit Jegors Hilfe, auf diesem Weg endlich mein Traumziel Spitzbergen zu
erreichen. Doch es kam anders. Fünf Jahre nach meiner ersten Begegnung mit Jegor musste ich auch diese Hoffnung begraben.
Im Alter von nur 54 Jahren war unser Freund ganz plötzlich gestorben.
Erst zu meinem fünfzigsten Geburtstag konnte ich mir meinen lang gehegten Spitzbergen-Traum
erfüllen - nicht mit einem teuren Kreuzfahrtschiff oder einem Exklusivangebot der norwegischen
Hurtigruten. Zusammen mit meiner Frau Claudia, unseren Töchtern Antje und Änne,
ihrem Schulfreund Adrian und der Enkeltochter Marina unserer französischen Freunde Huguette und Roger reiste ich im Sommer 1994
mit einem Gruppenticket der Bahn zu einem Rucksackurlaub nach Lappland. Monate zuvor hatte ich beim Blick in den Atlas festgestellt,
dass die Strecke Berlin - Abisko ja schon zwei Drittel der Entfernung nach Spitzbergen ausmacht.
In einem Jugendherbergsbuch hatte ich sogar ein Vandrarhem in Longyearbyen entdeckt und zunächst nur unsere Tochter Antje
in meine Gedankenspiele eingeweiht. Die Antwort auf meinen Brief an die nördlichste Jugendherberge Skandinaviens war prompt gekommen
und mit der Zusage auch der Augenblick, die Familie mit meinem verrückten Plan zu überraschen.
Noch wogen wir ab, ob wir per Schiff oder im Flugzeug von Tromsø aus nach Spitzbergen reisen sollten?
Der Preis war der gleiche, nur die Reisedauer mit dem Dampfer natürlich länger.
Ein Sonderangebot der „SAS“ gab den Ausschlag: Wenn Sie als Gruppe an einem Wochenende dorthin und am nächsten wieder zurück fliegen,
sagte man uns, müsste nur eine Person den vollen Preis zahlen, alle anderen wären für die Hälfte der Summe dabei.
Mit diesem „Wochenendticket“ war der Ausflug in die Arktis für uns perfekt. So kam es,
dass meine Töchter an ihrem zwanzigsten Geburtstag auf einem Gletscher von Spitzbergen standen - ein Ereignis,
von dem ich in diesem Alter nur hätte träumen können.
Die Wanderungen über blau leuchtende Gletscher, über tauende Schneefelder und wacklige Geröllhänge,
unter denen das Schmelzwasser rauschte, entlang an zugefrorenen Grubeneingängen und tosende Gischt führenden Eiskanälen
war für uns ein unvergessliches Erlebnis. Am meisten aber haben mich die oft nur wenige Zentimeter hohen Pflänzchen und Blumen,
wie Rentierflechte, Roter Steinbrech und Gletscherhahnenfuß beeindruckt, die hier ständig Wind, Schnee und Schmelzwasser trotzen.
Sie haben in mir ein Gefühl der Bewunderung und der Ehrfurcht vor der Natur geweckt und mir offenbart, wie verletzlich unsere Welt doch ist.
Und dann fanden wir, völlig unerwartet, auf einer Geröllhalde im Gletscher sogar noch wunderschöne Fossilien - versteinerte Abdrücke von Schachtelhalmen,
Sumpfzypressen und Platanenblättern! Als wären sie erst gestern im Sediment eines Sees versunken, hatten sie Millionen Jahre der Erdgeschichte überdauert,
und wir waren die ersten Menschen, die sie zu Gesicht bekamen!
Würdiger Abschluss unserer Spitzbergentour war die Fahrt mit einem ehemaligen Walfänger ins russische Barentsburg.
Dort konnten wir, außer dem vertrauten Lenin-Denkmal, auch den nördlichsten Kuhstall der Welt bestaunen.
Für uns als gelernte DDR-Bürger war die Verständigung mit den Russen kein sprachliches Problem,
und im Heimatmuseum halfen meine Töchter den anderen Touristen auch noch als Englisch-Dolmetscher.
Anders als einst erwartet, lebe ich meinen Traum von der Seefahrt noch immer.
Mit meiner Frau und Freunden bin ich mehrfach auf dem holländischen Schoner „Banjaard“ über Nord- und Ostsee gefahren.
Gemeinsam mit meinen Töchtern war ich eine Woche als Trainee auf dem russischen Windjammer „Sedow“ unterwegs.
Meine längste Schiffsreise unternahm ich auf dem deutschen Segler „Petrine“ über Barentssee, Weißes Meer, Onegasee, Ladogasee und Ostsee.
Und zu seiner Jugendweihe haben wir unserem Enkel Roman eine Segeltour mit der 100jährigen „Banjaard“ versprochen.