Eine Odyssee durch die Taiga oder dreißig Stunden bis Petrosawodsk

Von Werner Laube

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    Es war Mitternacht, als wir Andomski Pogost erreichten, doch dunkel war es immer noch nicht. Dass wir um diese Zeit überhaupt noch Menschen auf der Straße antrafen, glich einem Wunder. Unser erster Versuch, aus dem Ort heraus zu kommen und die Piste nach Pudosch zu finden, endete auf dem Hof eines Sägewerkes. Ein paar angetrunkene Burschen wollten uns mit dem Motorrad den Weg zeigen - eine Trasse am anderen Ufer der Andoma, der wir nur zu folgen bräuchten. Wir bedankten uns für ihr Angebot und zogen es vor, schleunigst weiter zu fahren. Über eine von Tausenden LKW-Reifen zerfledderte Brücke aus Baumstämmen gelangten wir an das rechte Flussufer und auf die schon erwähnte Trasse in den Wald. Schotter, Lehm und Knüppeldämme wechselten einander ab, und hin und wieder krachte ein Stein gegen den Autoboden. Es machte uns nicht bange, dass wir zehn, zwanzig oder dreißig Kilometer durch finsteren Wald fuhren, ohne auf irgendeine Ansiedlung zu stoßen. Das war normal hier, und eine Telefonleitung entlang der Piste bestärkte uns in der Gewissheit, dass wir uns auf dem richtigen Weg befanden. Wenigstens in dieser abgeschiedenen Wildnis hoffte ich, mal einen leibhaftigen Elch, einen Wolf oder gar einen Bären zu sehen, doch meine übermüdeten Augen hielten mich immer wieder zum Narren. Der stolze König der Wälder, den ich am Pistenrand als größeren dunklen Körper entdeckt hatte, entpuppte sich beim Näherkommen als stehen gelassener Traktor. Ein Rudel Wölfe verwandelte sich in einen Haufen weggeworfener Dieselfässer, und Meister Petz schlüpfte flugs in die Gestalt einer verrosteten Seilwinde.
     Fünfzig Kilometer hatten wir zurückgelegt und noch immer kein Dorf zu Gesicht bekommen. Erst jetzt bemerkten wir, dass auch die Telefonmasten neben der Trasse verschwunden waren! Laut Karte hätten wir längst Gakugsa erreichen müssen, doch auch nach weiteren zwanzig Kilometern Fahrt tauchte der Ort nicht auf. Die Piste hier wurde offenbar nur von schweren LKW befahren, und ab und zu passierten wir ein mächtiges, voll beladenes Langholzfahrzeug, das man unbeleuchtet am Straßenrand abgestellt hatte. Wir könnten ja die Fahrer nach dem Weg fragen, dachte ich so bei mir. Ich stoppte den Wartburg hinter einem der Holztransporter, kletterte auf das Trittbrett und leuchtete mit der Taschenlampe in das Fahrerhaus. Es war leer. Die Leute schliefen wohl in dem Waldarbeitercamp, an dem wir gerade vorbeigekommen waren. Auch Vera und Anna, unsere russischen Freundinnen, schliefen längst. Meine Tochter Antje aber, die immer die Karte studiert und die zurückgelegten Kilometer berechnet hatte, war hundemüde und hatte wie mein Künstlerfreund Hildur und ich seit zwanzig Stunden kein Auge zugemacht. Noch immer wollten wir es nicht wahrhaben, dass wir uns verirrt hatten; und der Gedanke, so kurz vor dem Ziel aufzugeben, erschien mir einfach absurd.
     In einem Wechselbad aus letzter Hoffnung und Trotz fuhren wir noch weitere fünfzehn Kilometer, und jetzt zweifelte keiner mehr daran, dass wir den Weg nach Pudosch total verfehlt hatten. Statt nach Norden zu fahren, waren wir auf eine Werktrasse der Holzfäller geraten, die sich in nordöstlicher Richtung mehr und mehr vom Onegasee entfernte. Wir befanden uns, wie man so sagt, auf dem Holzweg. Schweren Herzens beschlossen wir, nach Andomski Pogost umzukehren. Reumütig, wie geschlagene Krieger lenkten wir unseren tapferen „Elch“, dessen Motorhaube mit urigen Steinzeitgravuren geschmückt war, auf der so mühsam bezwungenen Piste zurück. Hinter dem Wald dämmerte schon der Morgen doch als wir das Holzfällercamp erreichten, lag hier noch alles in tiefstem Schlaf. Wir gelangten an eine Weggabelung und wussten nun überhaupt nicht mehr, woran wir waren. Es gab hier nicht mal den Rest von einem Hinweisschild. Dass dieser Wald einfach kein Ende nahm, brachte mich fast zur Verzweiflung, ja, ich kam mir beinahe wie Hänsel und Gretel vor. Erstaunlich war nur, was man sich auf der Herfahrt in dieser nächtlichen Einöde so alles eingeprägt hatte! Ob eine mit Wollgras bewachsene Senke, ein verrostetes Stück Raupenkette oder ein vom Blitz gespaltener Baum - jedes dieser Details war für uns ein Stück Hoffnung, aus diesem verfluchten Wald wieder heraus zu kommen.
     Der Motor klang schon seit geraumer Zeit etwas lauter als sonst, und als dieses Geräusch in ein kräftiges Dröhnen überging, beschlich mich schon ein ungutes Gefühl. Wir hielten an und stellten erleichtert fest, dass „nur“ der Auspuff vom Nachschalldämpfer abgerissen war. Das lange Rohr schliff auf der Fahrbahn und musste irgendwie hochgehalten werden. Das war leichter gesagt als getan, dem ich konnte am Unterboden nicht eine Öse oder Schelle finden, an der man das Ding hätte anbinden können. Nur mit einem Holzknüppel, den ich in das Rohr steckte, gelang mir das. Doch das Übelste waren die Mücken. Schon nach wenigen Augenblicken hatten sie uns so umschwärmt, dass wir von ihren Stichen fast verrückt wurden. Unter dem Auto liegend, sah ich die Quälgeister aus nächster Nähe prall mit Blut gefüllt über den Schotter kriechen. Dort, wo die Strahlen der Sonne schon hinlangten, dampfte die Erde, und der unberührte Wald bot im Morgenlicht einen zauberhaften Anblick. Moos und Flechten bedeckten die Äste der Bäume und verlieh letzteren das Aussehen uralter Waldgeister. Es fehlten nur noch die spielenden Bärenjungen des Malers Iwan Schischkin. Die gnadenlosen Mücken holten uns bald in die Wirklichkeit zurück.
     So schnell es ging, sprangen wir in den Wagen und traten mit knatterndem Auspuff die Flucht an. Ganz plötzlich endete die Taiga, und im friedlichen Schein der Morgensonne rollten wir über die zerschundene Holzbrücke von Andomski Pogost. Wir waren wieder unter Menschen und konnten hoffen, dass man hier auch unserem Auto half. So kam es dann auch, und dreißig Stunden nach unserem Aufbruch in Sankt Petersburg trafen wir todmüde aber glücklich in Petrosawodsk ein. Das Ziel unserer Grafikerträume, die prähistorischen Felsbilder von Besow Nos, die Hildur, mich und Antje nach Karelien gelockt hatten, erreichten wir erst Tage später mit einem Motorboot.