Die kluge Dora oder ein Trauerzug mit Hindernis

Von Werner Laube

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     Ein Sommer in den fünfziger Jahren. Die alte Röslern wurde zu Grabe gefahren. Eine Leichenhalle gab es damals auf unserem Friedhof noch nicht, und so bewegte sich der Trauerzug von den fast drei Kilometer entfernten Heidehäusern, den Ausbauten, langsam dem Dorfe zu. Angeführt wurde er vom Kreuzträger, einem schon größeren Jungen aus der achten Klasse, den der Pfarrer im Konfirmanden-unterricht dazu auserkoren hatte. Dann kamen die Musikanten. Ihre Blasinstrumente blitzten wie pures Gold in der Sonne. Im Gehen bliesen die Männer ab und an eine getragene, traurige Melodie in den strahlend blauen Himmel, der so gar nicht recht zu den schwarzbetuchten, ernsten Menschen passen wollte. Die brüchigen Stimmen der älteren Bauersfrauen, denen der Pfarrer mit kräftigem Bariton Beistand zu leisten suchte, wurden sogleich von der Weite der Felder und Wiesen verschluckt.
     Mit aufgesetzten Scheuklappen, blank geputztem Lederzeug und eingehüllt in schwarze Trauerdecken, die ihnen das Aussehen mittelalterlicher Streitrosse verliehen, zogen die Rappenhengste des Bauern Paul Melcher den ebenso altertümlich anmutenden, mit Kränzen behangenen Leichenwagen. Unter einem von vier gedrechselten Säulen getragenen Baldachin, der mit silbernen Palmzweigen verziert war, stand darauf der Sarg. Gramgebeugt und zu Fuß folgten die Angehörigen der Toten, Freunde oder Nachbarn dem ungewöhnlichen Gefährt.
     Mein Vater, der nie einen Feiertag heiligte und oft die Nacht zum Tage machte, hatte für unsere Kühe eine Fuhre Gras gemäht und befand sich nun auf dem Heimweg. Mit knarrenden Rungen und ächzendem Langbaum rumpelte der schwere, eisenbereifte Ackerwagen den Weg entlang, der mit Schlaglöchern und dicken Baumwurzeln reich gesegnet war. Dieser Weg kam von den waldumsäumten Wiesen der Gloschyna und mündete in die damals noch unbefestigte Straße zum Dorf ein.
     Die aufkommende Tageshitze und das Rütteln des Wagens hatten Vater schläfrig gemacht, und wie es bei ihm nicht selten geschah, war er hoch oben, auf der Grasfuhre eingenickt. Dora, unsere treue Schimmelstute, kannte den Weg. Es war undenkbar, dass sie – egal ob bei Tage oder in der Nacht - einmal ihren Stall nicht allein wiedergefunden hätte. Dora war ein kluges Tier; sie wusste auch ihre Kraft gut einzuteilen. War ihr der Wagen zu schwer, blieb sie einfach stehen, und hatte sie sich ausgeruht, setzte sie ohne einen Befehl ihren Weg fort. Nur beim Anrucken des Wagens wachte ihr Kutscher eventuell auf. Dass Dora gerade in jenem Augenblick die Straße erreichte, als dort der Leichenzug herannahte, war reiner Zufall. Seelenruhig zog sie, keine fünfzig Schritte vor der ebenso langsam pilgernden Trauergemeinde, ihre Grasfuhre. Die Musikanten spielten „Jesus, meine Zuversicht“, und der feierliche Klang des Liedes schien sogar dem Pferd neue Kraft zu verleihen.
     Vielleicht beschwor er auch in Vaters Träumen besonders festliche, eindrucksvolle Bilder herauf. Das ging so ein paar hundert Meter gut. Dann aber brach die Musik wieder einmal ab, und augenblicklich war es auch mit Doras neugewonnener Zuversicht vorbei. Schlagartig erlahmten ihre Kräfte; Dora machte wieder einmal Rast! Bot die Trauerprozession schon bis dahin einen recht merkwürdigen Anblick, so wirkte sie jetzt ganz und gar komisch. Bis meine Tante Anna, die als eifriges Kirchenmitglied und gute Sängerin bei keiner Beerdigung fehlen durfte, kurzentschlossen auf die Grasfuhre kletterte und Vaters Träumen ein jähes Ende bereitete.
     Zu Hause angekommen, fiel Vater mit Schrecken ein, dass er ja nach der Beerdigung noch das Grab zuschaufeln musste, das er am Vortag zusammen mit seinem Neffen Günter Robel ausgeschachtet hatte! Dazu wurden damals die Skerbersdorfer Männer reihum von der Gemeinde verdonnert.
     Eilig schirrte Vater das Pferd ab, schwang sich auf seinen Drahtesel und preschte, ohne Mittag gegessen zu haben, zum Friedhof. Die Trauergemeinde hatte den Begräbnisort bereits verlassen und sich zum „Fellversaufen“ in die Kneipe aufgemacht. Vater und unser Cousin Günter machten sich also an die Arbeit. Dabei erinnerte sich Vater daran, dass die Tote, die da unten stumm in ihrem Sarg lag, zu ihren Lebzeiten oft einen Satz mit dem Wort „Nauer“ bekräftigt hatte. Das bedeutete „Nicht wahr“, wurde aber von keinem anderen Menschen in unserem Dorf so ausgesprochen. „Die Wildschweine hoaben diesjoar wieda n` Haufen Schoaden gemacht, nauer!“ bemerkte die alte Röslern manchmal, und Vater amüsierte sich jedes Mal über diesen Kommentar. Als begnadeter Imitator von Menschen- und Tierstimmen veralberte er gern die Nachbarn. Als nun die ersten Erdklumpen auf den Sarg polterten, konnte er es nicht lassen und schickte der alten Röslern in ihrem Tonfall das vertraute „Nauer“ als letzten Gruß hinterher.


Willy Laube auf Heuwagen Leichenwagen


Willy Laube
auf dem von Dora gezogenen Heuwagen
Foto: Werner Laube


Der Leichenwagen von Skerbersdorf
Jetzt im Museum von Sagar