Vom Widerstand zum Kunstsalon
Von Werner Laube
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An einem Augusttag des Jahres 1983 klingelte es nachmittags an unserer Wohnungstür.
Ich öffnete und erblickte ein mir unbekanntes Paar im Rentenalter - sie mit kastanienbraunem Haar, er mit Vollglatze.
Beide trugen Brille und lachten mich an. „Parlez-vous français?“ fragte die Frau, und als ich das bejahte,
fügte sie auf französisch hinzu: “Wir sind die Eltern von Christine!“
Eine Christine in Frankreich kannte ich nicht, doch ich bat die ungewöhnlichen Besucher erst mal herein und bewirtete sie.
Glücklicherweise kam meine Frau Claudia bald aus der Schule imd klärte mich auf:
Sie hatte zwei Jahre zuvor als Französischlehrerin in Adlershof für eine Lehrergruppe aus Paris gedolmetscht,
die zu einem Ostersymposium in die DDR gekommen war, um deren Bildungssystem näher kennen zu lernen.
Auch die Frage, wie man hier in den Schulen mit dem Thema Faschismus umgeht, hatte die französischen Gäste interessiert.
Nach dem Besuch von Krippen, Kindergärten und Schulen im Bezirk Treptow war es zu einer Begegnung der Franzosen mit der Schulleiterin
Lore Friedländer gekommen,
die als Jüdin im Dritten Reich ihre ganze Familie verloren hatte. Claudia hatte das Gespräch damals übersetzt und danach erwähnt,
dass auch ihre Mutter Witwe und ihre Schwester Eva Kind eines ermordeten Widerstandskämpfers seien.
Darauf war eine der Französinnen spontan auf sie zugekommen, hatte ihr ein Seidentuch umgebunden und erklärt,
ihr Vater sei auch Resistance-Kämpfer gewesen und habe eine Odyssee durch mehrere deutsche Konzentrationslager zum Glück überlebt.
Diesem Widerstandskämpfer, Roger Monty, und seiner Frau Huguette standen wir nun persönlich gegenüber und empfanden für sie
von Anfang an statt Heldenehrfurcht einfach nur große Sympathie! Auch politisch verstanden wir uns sofort.
Es war ein wunderbarer, unvergesslicher Abend für uns alle, und gern brachte ich unsere neuen Freunde um Mitternacht
zu ihren deutschen Gastgebern am Treptower Park zurück. Jahre vergingen, Briefe und Fotos gingen hin und her,
und manchmal kam auch ein Kartengruß von der Insel Réunion, wo die Montys gerade zur Kur weilten. Und immer wieder stellten sie uns die Frage:
„Warum kommt Ihr uns nicht mal besuchen?“ Wir konnten sie den französischen Kommunisten beim besten Willen nicht beantworten.
Unsere erste Reise nach der Öffnung der Grenzen führte im Sommer 1990 nicht zu unserer Westverwandtschaft nach Bayern oder ins Rheinland,
sondern zu unseren Freunden in Frankreich. Die teilten unsere Gefühle und Befürchtungen im Hinblick auf die bevorstehende Vereinigung von DDR und BRD.
Sie litten wie wir unter dieser politischen Entwicklung, weil mit ihr ja auch für sie ein Stück Hoffnung auf eine menschenwürdige Alternative zum Kapitalismus zerbrach.
Roger kommentierte damals: „Jetzt können sich die Leute bei Euch die Nasen an den Schaufensterscheiben plattdrücken und die Sachen bewundern,
die sie sich künftig nicht mehr leisten können.“ In der Wohnung ihres erwachsenen Sohnes Claude,
der zusammen mit seiner Schwester Christine mehrfach den Sommer in einem Kinderferienlager bei Strausberg verbracht hatte,
entdeckten wir eine große DDR-Fahne.
Mit der Einladung mussten Roger und Huguette damals auch eine Verpflichtung zur Übernahme aller Kosten unseres Aufenthalts in Frankreich unterschreiben.
Sie zeigten uns die schönsten Sehenswürdigkeiten der Beauce und der Essonne und verwöhnten uns und unsere Zwillingstöchter in ihrem Haus in Méréville.
Spontan beschlossen die Mädchen, neben Russisch und Englisch auch noch Französisch zu lernen. Da es
zwischen Deutschland und Frankreich keine Grenzkontrollen mehr gab,
nahmen wir zwei Jahre später sogar unsere russische Freundin Vera ohne Visum im Auto nach Paris und Méréville mit.
Auch sie hatte bei früheren illegalen Touren durch das Leningrader Gebiet für uns einiges riskiert.
Für einen Urlaub im Ardèche boten uns Roger und Huguette später auch ihr Haus in Lagorce an,
und Tochter Christine begleitete uns durch die Provence.
Mehrmals haben uns die französischen Freunde auch in Berlin besucht. Gemeinsam fuhren wir in das Oderbruch,
in den Spreewald und in die Oberlausitz. Besonders berührt hat mich ein Besuch im sächsischen Kamenz.
Ein altes Fabrikgebäude war dort von den Nazis zum KZ-Nebenlager eingerichtet worden, und Roger zeigte mir die Werkhalle,
in der er mit seinen Kameraden das Weihnachtsfest erlebt hat. Es war das traurigste Fest seines Lebens.
Dass man nach der Wende die „Straße der Widerstandskämpfer“ neben der Fabrik wieder in „Herrenstraße“ rückbenannt hat,
empört mich noch heute.
Zu meinem Fünfzigsten unternahm ich mit Frau und Töchtern eine langersehnte Reise nach Lappland und Spitzbergen.
Für diese Fahrt vertrauten uns Roger und Huguette, mit Zustimmung der Eltern, sogar ihre 16jährige Enkeltochter Marina an!
Kann man von Menschen mit solch einem Schicksal noch mehr Vertrauen erwarten? Seit 2010 fahren wir jedes Jahr einmal nach Méréville.
Damals fragte mich Roger, ob ich nicht Lust hätte, auch hier mal meine Bilder auszustellen?
Im Kulturzentrum des Ortes fand gerade der jährliche Kunstsalon statt, und dort lernte ich auch Madame Gillotin,
die Präsidentin des Kunstvereins, kennen. Ein Jahr später erhielt der Kunstverein Treptow eine Einladung zum Salon,
und 2012 wurden wir Treptower Maler dort sogar als Ehrengäste begrüßt. Auch unsere polnischen Künstlerfreunde,
mit denen wir seit 10 Jahren gemeinsam im Warthebruch malen, konnten inzwischen schon zweimal in Méréville ausstellen,
und zwei französische Künstlerinnen, Christine und Carmen, waren 2014 beim Pleinair in Slofisk dabei. So haben wir,
dank unserer französischen Freunde, eine Brücke der Kunst und des Friedens von Méréville über Berlin nach Gorzów gebaut.
Roger zählt jetzt 92, seine Huguette fast 85 Jahre. Ihre Freundschaft ist für uns ein wahres Geschenk.