Wendisch-Musta/Birkfähre - ein Dorf, das es nicht mehr gibt
Vorwort
Vor unserem Treffen am 30.8.08 haben Manfred Weise, Achim Schuster, Walter Petro, meine Schwester und ich unserem Dorfgelände einen Besuch abgestattet. Dabei war auch Herr Junge aus Krauschwitz. Im Anschluß daran bat mich Herr Junge, etwas über Wendisch-Musta und das Leben einst dort aufzuschreiben. Deshalb dieser Bericht. Dazu erhielt ich Unterstützung von Walter Petro, dafür meinen Dank.
Leben in Wendisch-Musta
Und da stellte sich mir gleich die Frage, mit was fängst an, mit was hörst auf? Also kam ich zu dem Schluß, das Schulhaus als erstes zu erwähnen. Aus Richtung Priebus/Lichtenberg kommend das erste Anwesen. Das Haus wurde 1899 gebaut und hatte weiter keinen Komfort. Fließendes Wasser oder Bad waren nicht vorhanden. Woher sollte dafür das Geld auch kommen? So um die 250 Einwohner zählte die Gemeinde. Das Wasser war eisenhaltig und wurde durch ein Filter etwas vom Eisen befreit. Aus diesem Grund hing in der Küche ein Behälter, Inhalt feiner Sand, und durch diesen Behälter mußte das Wasser gepumpt werden. Die dazugehörige Pumpe befand sich im Keller. Zum Wasserfassen waren immer 2 Personen erforderlich, eine im Keller zum Pumpen und die andere in der Küche zum Auffangen des Wassers. An Gebäuden gehörte eine Scheune und ein Nebengebäude dazu, dieses beinhaltete einen kleinen Stall und die Unterbringungsmöglichkeit des Heizmaterials für Klassenzimmer und Lehrerwohnung. In der Scheune war ein Hühnerstall und ein Abteil für die Garten-und Sportgeräte eingebaut. Bei letzteren lag ein recht bescheidenes Angebot vor. Es handelte sich nur um Bälle, Schläger für Schlagball, Tau, Seile. Der Sport spielte sich meistens auf dem Pausenplatz ab. Deshalb besaß das Schulhaus auf der Seite zum Platz hin im Erdgeschoß keine Fenster. Scheiben konnten nicht zu Bruch gehen. Einen Sportplatz gab es am Grünen Weg nach Pechern, eine Wiese mit Sprunggrube, mehr nicht.
Innerhalb der Einzäunung des Schulgrundstücks - im Anschluß an den Pausenplatz - befand sich mit Brunnen der Garten für die Lehrersfamilie. Außerhalb der Einzäunung folgte der Schulgarten. Hier durften die Schulkinder das Gärtnern lernen. Den Abschluß bildete dann ein Stück Acker (spitz zulaufend). Die Obstbäume, in erster Linie Apfelbäume, hat man auf der anderen Seite (Westseite) des Grundstücks angepflanzt. Eine sehr gute Sortenauswahl lag da vor. Die Reife und Haltbarkeit waren gestaffelt. So ergab es sich, daß dem Lehrer auf Grund der gleichmäßigen Temperatur im Keller bis Pfingsten des darauffolgenden Jahres Äpfel zum Verzehr zur Verfügung standen.
Die Schulmeister, so nannte man einst die Lehrer auf dem Dorf, erhielten kein fürstliches Gehalt. Sie konnten sich, was Nahrung anbelangt, ihren Unterhalt etwas aufbessern. Das geschah über Kleintierhaltung. So gehörte zur Schule ein Acker in der Größe von 2 Morgen. Er befand sich in den Kuten. Und dann gab es noch eine, wenn auch kleine Unterstützung. Einige Besitzer von Anwesen waren verpflichtet, dem Lehrer Roggen zu bringen. Es handelte sich dabei nur um geringe Mengen, wie z. B. 700 Gramm. Das Schulhaus besaß zwei Haustüren, rechts für die Klasse, links gelangte man in die Lehrerwohnung. Diese bestand im Erdgeschoß aus 2 Wohnzimmern – eins davon die gute Stube – Küche und Kammer. Das Schlafzimmer lag oben. Der Dachboden hätte sich, von der Größe her, als Tanzboden geeignet.
Die Einrichtung des Klassenzimmers im üblichen Stil. Es gab auch eine Nähmaschine.
Die Schule in Wendisch-Musta übernahm zum 1.10.1932 Wilhelm Lachmann. Zuvor hat ein Lehrer Steinbeck und wiederum davor ein Lehrer Lausch das Lehramt ausgeführt. Ab Herbst 1939 unterrichtete Hermann König.
Die Aufteilung der einklassigen Schule war in Stufen. 1. u. 2., 3. u. 4. sowie 5. - 8. Jahrgang. Unterrichtsanfang und -ende unterlag einer Staffelung. Im Sommer Schulbeginn um 7.00 Uhr für die Jahrgänge 5 - 8. Damit der Lehrer "die Kleinen", gemeint ist Jahrgang 1 und 2, mal unter sich hatte, fiel der Unterricht bei ihnen donnerstags und freitags auf die Nachmittagsstunden von 13 bis 15 Uhr. Es gab eine Pause.
Bis 1940 erfolgte die Einschulung – jeweils ohne große Feier – nach Ende der Osterferien, ab 1941 nach Ende der Sommerferien. Im Herbst 1941 nahmen wir von der Sütterlinschrift Abschied und mußten uns auf die lateinische Schrift umstellen. Bis 1939 fanden auch Schulausflüge statt. 1933 fuhr man in den Spreewald, 1937 ins Riesengebirge.
Zu Wendisch-Musta gehörten die Ortsteile Kutschig (etwa 4 km), Schrothammer (ca. 3 km) und Lichtenberg (2 km) entfernt. Die Schulkinder von dort hatten also einen weiten Schulweg und das meistens zu Fuß. Schulbus: Fremdwort.
Zum Handarbeitsunterricht kam eine Hauswirtschaftslehrerin per Fahrrad. Die Mädchen vom Jahrgang 7 u. 8 erhielten 1 x in der Woche nachmittags Kochunterricht in der Dorfschule in Pechern. Wann dieser Unterricht wegen der rationierten Lebensmittel im Krieg eingestellt wurde, weiß ich nicht.
An Sportarten, entweder auf dem Pausenplatz oder Sportplatz ausgeführt, gab es Völkerball, Schlagball, Tauziehen, Sackhüpfen, Seilspringen,Weitwurf- und Weitsprung. Nun genug zum Thema Schule.
Jetzt ist das Rittergut dran. Das Dominium oder bloß Gut, so wurde es auch genannt, gehörte der Familie Berghoff-Ising. Sie stammte aus dem Sauerland. Wir alle erinnern uns noch an Frau Berghoff-Ising sen. Für uns war sie die alte Dame und dies ist - ich möchte es besonders betonen - als Hochachtung zu verstehen. Hier eine Anekdote. Sie bestand darauf, daß in ihrer Küche nur Eier mit brauner Schale verwendet werden, die Hühner vom Gut legten diese jedoch in weiß. Die ihr zusagenden Eier besorgte sie sich bei Petros. Schon allein deshalb bei Petros, weil Frau Berta Petro bis zu ihrer Heirat auf dem Gut als Köchin fungierte.
Bekannt war unser Rittergut auf dem Gebiet der Saatzucht von Roggen und Kartoffeln. Wieviele Tiere sich in den Ställen aufhielten, weiß ich nicht. Auf jeden Fall gab es Pferde, die in erster Linie für die Kutsche bestimmt waren. Ein Gespann bestand aus zwei Ochsen. Zum Fuhrpark gehörten auch zwei Traktoren. Die Mitarbeiter vom Gut lebten zum großen Teil in Dienstwohnungen. Erwähnt sei die Brennerei. Eigene sowie von anderen landwirtschaftlichen Betrieben stammende Kartoffeln setzte man in Alkohol um.
Auf dem Grundstück "Reitbahn" befand sich ein Lagerkeller für Stangeneis. Das Eis entnahm man den Lachen nahe des Vorwerks und diente im Sommer zum Kühlen der Milch. Nicht zu vergessen das Zuhause der Gerätschaften der Freiwilligen Feuerwehr im Rittergut. Das große Tor (zur Straße hin) im Stallgebäude an der Dorfchaussee war nicht zu übersehen. Unser letzter Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr hieß Paul Tschöpel.
Als Mittelpunkt - nicht geographisch, doch im übertragenen Sinne - muß man die Bäckerei mit Kolonialwarenhandlung, Poststelle und Öffentlichen Fernsprecher betrachten. Unser jeweiliger Bäcker hatte also gleich mehrere Posten zu betreuen. Brot, Semmeln und Kuchen backen, Ware ein- und verkaufen, dazu die Dienstleistungen erledigen, die mit der Postagentur einhergingen, wie das Austragen der Briefe und Pakete.
In unser aller Erinnerung sind die Bäckermeister Emil Schuster und Paul Liebisch. Schusters gingen 1938 nach Skerbersdorf, weil er sich dort eine eigene Bäckerei aufgebaut hat, in Wendisch-Musta war das Gebäude nur zu pachten. Bald nach Kriegsausbruch wurde der Bäcker aus Dubrau eingezogen. Herr Liebisch erhielt die Anordnung, auch für die Dubrauer mit zu backen und so fuhr er jeweils nachmittags per Fahrrad dorthin, um den Auftrag auszuführen. 1943 mußte auch Herr Liebisch einrücken. Die Bäckerei Tzschoppe in Pechern mußte von nun an unseren Bedarf mit abdecken und die Liebisch-Jungen per Fahrrad die Backwaren dort abholen. Bei Wind und Wetter keine leichte Aufgabe.
Hier sei erwähnt, daß das alte Schulgebäude zur Bäckerei umgebaut worden war. Eine Überschwemmung des Dorfes infolge Dammbruch im Jahre 1897 hatte das damalige Schulhaus aus dem Jahre 1823 unbrauchbar gemacht. Deshalb – wie eingangs erwähnt – der Neubau.
Als nächstes ist unsere Brauerei Graf zu erwähnen. Dazu gehörte das Gasthaus mit dem Saal. In einer der beiden Gaststuben stand ein elektrisches Klavier. Die Töne bestimmte eine sich drehende mit Metallstiften versehene Walze. Zu den im Saal stattfinden den Veranstaltungen, wie z. B. Kirmestanz, Maskenbälle, so habe ich mir sagen lassen, sind die Leute vom weiten Umkreis sogar bis aus Zibelle gekommen (ohne Auto versteht sich). Die flotte Musik lieferte die Kapelle Heinrich Hänsel/Skerbersdorf. Aber auch Musikanten aus anderen Dörfern spielten da mit, so Herr Röhnsch aus Schrothammer und Herr Max Schulz aus Lichtenberg.
Als Bier wurde unter anderem ein sogenanntes Jungbier gebraut. Es hatte wenig Alkohol und schmeckte etwas süßlich. Die Haltbarkeitsdauer war begrenzt. Wer nicht weit weg wohnte, holte sich das Bier in Behältern, um es dann zuhause in Flaschen abzufüllen.
Als Handwerksbetriebe gab es noch die Tischlerei Heinrich Meißner und die Schmiede Willy Mühl. Der Schmied war nicht allein für den Hufbeschlag zuständig, nein auch die Reifen aus Eisen mußten auf die Wagenräder, die noch aus Holz bestanden, aufgezogen werden. Auf dem Dreieck zwischen der Schule und der Schmiede loderte dann ein Reisigfeuer, in dem die Reifen erhitzt wurden, damit sie sich ausdehnten.
Verkehrsmäßige Anbindung durch ein öffentliches Verkehrsmittel hatten wir nur in Richtung Bad Muskau durch das Postauto. Es kam aus Priebus und bediente die bereits erwähnte Postagentur. 4 Mitreisende hatten darin Platz.
Die Fährverbindung über die Neiße nach Skerbersdorf wurde mittels Kahn für Personen (auch mit Fahrrad) abgewickelt. Der Kahn gehörte bis 1941 Herrn Otto Werner und war auf unserer Seite angeschlossen. Später übernahmen die Petro-Jungen den Betrieb. Und waren die gerade nicht erreichbar, sprang von Schusters jemand ein. Die dazugehörigen Stangen hatten verschiedene Längen und kamen je nach Wasserstand zum Einsatz. Wollten die Skerbersdorfer auf unsere Uferseite, z. B. zum Bierholen oder zur Weiterfahrt nach Dubrau in die Gärtnerei, so mußten sie sich durch Rufen bemerkbar machen. Die Fähre und Birken an der Neiße haben, als der sorbische Name Wendisch-Musta 1936 nicht mehr erwünscht war, unserem Dorf den Namen "Birkfähre" gegeben.
Und was hat sich so noch abgespielt? Da komme ich zuerst zum Dreschen. Jetzt rührte sich was, auch für uns Kinder. Die Dreschmaschine der Dreschgenossenschaft hatte bis 1939 Herr Paul Petro unter seinen Fittichen, anschließend Herr Walter Warko. Sie waren - man verzeihe mir die Bezeichnung - die Maschinisten. Die Aufstellung, der Betrieb, also der Dreschvorgang, der Umzug zum nächsten Hof und die Wartung lagen in ihren Händen. Der Antrieb der Maschine erfolgte elektrisch von einem Motorwagen mittels einem breiten Riemens. Hatte aber einmal der Einleger zuviel in den "Kasten" gegeben und die Halme wickelten sich um die Trommeln, kam es zum Abwurf des Riemens. Den sollte und wollte niemand abbekommen. Deshalb gehörte der Bereich des Motorwagens zur Tabuzone.
Ein Fest auf jedem Anwesen war das Schweinschlachten. Nachdem das geschlachtete Schwein im Trog mit kochendem Wasser überbrüht und mittels Schabeglocke seiner Borsten entledigt worden war, erfolgte die Aufhängung an der Schweineleiter. Nun entnahm man dem Tier das Eingeweide, und die Därme, Blase und Magen wurden zur Wurstbereitung gereinigt. Im Wurstkessel garte man zuerst das Wellfleisch. Dann kamen in denselben Sud die Semmel-, Grütz-, Blut- und Leberwurst. Hatten letztere ihren Garprozeß beendet, blieb die allseits beliebte Wurstsuppe zurück. Eventuell war noch ein Nachwürzen mit Majoran erforderlich.
Wo noch Brot gebacken wurde, gab's den Plaaz. Man verspeiste ihn lauwarm. Es handelte sich um einen auf ein Blech ausgewalkten Brotteig - mitunter gekochte, zerdrückte Kartoffen darunter gemischt - mit Butter bestrichen und mit Zucker und Zimt bestreut.
In meinen Erinnerungen ist ganz sehr das Grammophon bei Hentschkes mit der Schallplatte "Autofahrschule Runxendorf" von Ludwig Manfred Lommel hängen geblieben. Paul gab sich unendliche Mühe, um der Pauline beizubringen, wie man ein Auto zum Fahren bringt. Ich kann aber nicht mehr sagen, ob ihm das gelungen ist. Heute ist solch ein Gerät als umweltfreundlich einzustufen, es war nicht abhängig vom Strom. Damit sich der Plattenteller drehte, mußte ein Federwerk mittels Handkurbel aufgezogen werden. Leider ließ die Tonqualität, die da aus dem Trichter strömte, etwas zu wünschen übrig. Kunststück, es gab noch kein Stereo und kein Hifi.
Mit großer Sehnsucht wurde im Frühjahr auf den ersten Ruf des Kuckucks gewartet. Alles, was unter Schuhwerk und Pantoffeln fällt, war nicht mehr gefragt. Barfußlaufen war angesagt. Da auf unseren Grundstücken das Federvieh freien Lauf besaß, kam es unter anderem vor, daß man unvorsichtigerweise in deren Hinterlassenschaft getreten ist. War nur die Fußsohle betroffen, weiter nicht schlimm. Mit einem Hin- und Herrutschen auf dem Sandboden wurde die Angelegenheit abgestreift. Etwas Mühe kostete es, wenn der Raum zwischen den Zehen davon abbekam. Mit einigen Halmen vom nächsten Grasbüschel beseitigte man den Schaden. Irgendwie haben wir damals unser Immunsystem gestärkt, denn eine Allergie gegen dies oder jenes ist uns fremd.
Weiß noch jemand, wie wir barfuß, ohne unsere Sohlen zu schädigen, ein gemähtes Getreidefeld überquerten? Das geschah natürlich behutsam, und zwar so: Beim Mähen wird bekanntlich die Sense im Halbkreis geschwungen. Rechts und links blieben die Stoppeln etwas höher zurück, und genau die Reihe mit den höheren Stoppeln war unser Weg. Wir hoben unsere Füße nur wenig an und traten die Stoppeln um. Es war also mehr ein Schleichen. Das ging zwar nicht so schnell, aber es ist kein Blut geflossen.
Hat uns mal der kleine Hunger überfallen, so holten wir uns die Kost für die Zwischenmahlzeit aus dem Garten oder vom Wegesrand. Der Garten lieferte - je nach Wachstum und Reife der Früchte - Beeren, Gurken, Tomaten, Mohrrüben und dergleichen. War der Weg zum Brunnen zu weit und es klebten z.B. bei den Mohrrüben nach dem Abreiben noch ein paar Sandkörner daran, so gingen die mit runter nach der Devise "Sand scheuert den Magen“.
Vom Wegesrand stammten die Käsenäppel. Es handelt sich um den heranreifenden Samen eines Unkrauts von der Größe einer mittleren Tablette. Es mußten also schon mehrere herhalten, um den Magen zu beruhigen.
Im Herbst, auf den abgeernteten Kartoffelfeldern, gab's auch eine Nahrung für uns Kinder. Das vertrocknete Kartoffelkraut, die sogenannten Stürzel, trug man auf Haufen zusammen und zündete sie an. Deren verbliebener Glut übergaben wir Kartoffeln, sie unterlagen nun einem Abbackprozeß. Manchmal erhielten sie einen sehr schwarzen Mantel, ich meine, sie waren etwas verkohlt, aber aus der Mitte kam nach dem Aufbrechen eine köstliche Speise.
Und was war für uns Kinder an Freizeitbetätigungen geboten?
Im Sommer hielten wir uns, um nur einige zu nennen, an Hascher, Verstecker, Hipperkästchen und Kreiseln. Unser Lido = Badestrand befand sich - versteht sich - an der Neiße. Wir lagen und spielten jedoch auf Rasen. Nun muß man wissen, daß die Neiße - jedenfalls zu unserer Zeit - eine ziemliche Strömung besaß. So ungefährlich war das Baden darin nicht. Und wer darin das Schwimmen erlernt hat, vor dem ziehe ich den Hut. Wenn sich auf der anderen Uferseite unseres Flusses Kinder aus Skerbersdorf aufhielten, so riefen wir hinüber: "Die Skerbersdorfer Halunken im Drecke versunken, in Butter gebraten und no nie geraten" (Anmerkung: Im Juni 1945 waren wir dann froh, daß die Mehrzahl unser ehemaligen Bewohner von den Skerbersdorfern aufgenommen wurde. So kann' s gehen.)
Das Schlittenfahren war auch für uns das höchste Vergnügen. Unser Berg dazu lag hinter dem Rittergut. Nun zog sich unterhalb des Abhangs ein Entwässerungsgraben entlang, über den ein etwas breiter Steg führte, der wiederum nicht in unserer Falllinie lag und nur mit einer gut gelenkten Kurve überquert werden konnte. Jetzt kam jemand auf die Idee, 3 Schlitten aneinander zu kuppeln. Der Erste auf dem Schlitten Nr. 2 war der Steuermann und zwar mit den Händen am Sitzende und den Füßen auf den Kufenenden des Schlittens Nr. 1. Wir nannten es Bobfahren. Die Fahrt begann rasant aber zum Bewältigen der Kurve war die Geschwindigkeit zu hoch. Der letzte Schlitten kippte um, die Besatzung lag im Schnee und das Gefährt kam zum Stehen. Nach weiteren Versuchen, die das gleiche Ergebnis brachten, ließen wir von dieser Sportart ab. Es gab da aber noch das Eislaufen, ich meine das Schlindern. Von wegen Schlittschuhe, Holzpantoffeln trugen unsere Füße. Wer es fertigbrachte, dabei in die Hocke zu gehen, sein Körpergewicht auf den rechten Fuß zu legen und mit dem linken Fuß auf das Eis zu schlagen, der war ein Künstler, also Eiskunstläufer/in.
Beinahe hätte ich den Weinberg vergessen. Es handelt sich um ein Stück Hochufer der Neiße, damals unbewaldet, so daß uns der Sand zum Spielen und auch für andere Zwecke zur Verfügung stand. Er ist zwar gegen Süden gerichtet, aber warum der Weinberg Weinberg hieß, ist mir ein Rätsel. Sollte es auf diesem Sand einst Weinstöcke gegeben haben?
Soviel zu Spaß und Spiel von uns Kindern.
Ein "Öffentliches Gebäude" besaßen wir auch, ich meine das Nachtwächterhäuschen, es war nämlich nach einer Seite offen. Wenn man bei Hentschkes um die Ecke bog, stand es links. Den Nachtwächterdienst versah in erster Linie Herr Robert Tschöpel. Aber auch andere Männer vom Dorf übernahmen die Nachtwache. Bei den Begleitutensilien handelte es sich um 1 Stab, 1 Horn und das Tagebuch.
Wir waren nur ein Dorf, aber wir hatten ein Kino. Und wo? In Lichtenberg im Lager. In diesem Lager hatten Männer, die in der Muna = Munitionsanstalt Pattag/Neißebrück „dienstverpflichtet“ arbeiten mußten, ihre Unterkunft. In gewissen Abständen bekamen sie abends in der Kantine einen Film vorgeführt, denn Fernsehen gab es noch nicht. Und diesen Film durften wir, die Außenstehenden vom Umkreis, am Nachmittag sehen.
Während des Krieges mußten auch von uns viele Männer „ins Feld“ ziehen. Da mangelte es sehr an Arbeitskräften, namentlich in der Landwirtschaft. Hier bekamen unsere Landwirte und auch das Rittergut Aushilfen durch Kriegsgefangene, die im Frankreich-Feldzug in Gefangenschaft gekommen waren. Ihre Unterkunft befand sich in der Brauerei Graf. Anfangs lag der Schließdienst des Raumes in den Händen von Herrn Otto Mißbach, später in denen eines Polizisten, der aus Braunsdorf kam, und zwar auf einem sogenannten Leichtmotorrad Marke „Fichtel & Sachs“.
Auch wir erhielten Leute aus den bombengeschädigten Großstädten wie Berlin und Köln zur vorübergehenden Einquartierung. Zu diesem Personenkreis gehörte unter anderem Harald Juhnke mit seinem älteren Bruder. Beide waren im Rittergut untergebracht. Nach geraumer Zeit gefiel unserer Frau Berghof-Ising jun. Haralds Benehmen nicht mehr, und so mußten die beiden in die Brauerei Graf umziehen. Wahrscheinlich ist es auch dort zu einer Unstimmigkeit gekommen, denn eines Tages waren die Juhnke-Jungen wieder fort.
Unser Bürgermeister hieß Emil Tschöpel. Sein Amtsbeginn geht auf das Jahr 1923 zurück und endete im Juni 1945, als sich unser Treck in Skerbersdorf auflöste, jenem Ort, in dem die Mehrzahl von den Wendisch-Mustaern eine neue Bleibe fand. Man beachte den Zeitraum: 1923 bis 1945. Die Bewohner von Wendisch-Musta haben ihm also mehrere Jahre das Vertrauen gegeben.
Hier ist in groben Zügen festgehalten, wie Wendisch-Musta war und wie es sich bei uns gelebt hat. In erster Linie bezieht sich dieser Bericht auf den Zeitraum 1937 – 1945. Ein Jüngerer mag jetzt denken: " Oh Gott, was waren die arm.“. Da liegt er völlig falsch. Die Zeit war so, wir waren zufrieden und genossen unsere Freiheit, man kann es nicht oft genug betonen.
Am 20. Februar 1945 hat Wendisch-Musta/Birkfähre aufgehört zu existieren. In den Morgenstunden dieses Tages verließen wir per Treck vor der herannahenden Front unser Dorf und während der Abendstunden hat man es mit dem Ortsteil Lichtenberg in Schutt und Asche gelegt. Zu allem Unglück kam noch die Grenzverschiebung an Oder und Neiße, so daß uns eine Rückkehr in die Ruinen und ein Wiederaufbau verwehrt blieb.
Flucht und Rückkehr
Nach Veröffentlichung meines Berichts über unser Dorfleben in Birkfähre/Wendisch-Musta erhielt ich einigen Zuspruch und es folgte die Bitte, über unsere Flucht im Februar 1945 nach Waldheim/Sachsen und zurück nach Skerbersdorf zu berichten. Auch die ersten Jahre dort sollten nicht in Vergessenheit geraten.
Ich muß jedoch erwähnen, daß nicht alle Bewohner unseres Dorfes mit den Ortsteilen Lichtenberg, Schrothammer und Kutschig sich dem Treck angeschlossen haben und nach Rückkehr an die andere Uferseite der Neiße ihre endgültige Bleibe in Skerbersdorf und dem Umkreis fanden. In dem folgenden Bericht sind unter anderem einige Begebenheiten aufgeführt, die nur unsere Familie betreffen, die jedoch die Zeitumstände von damals in Erinnerung bringen sollen.
Ebenfalls ist anzumerken, daß hier nicht alles aufgeführt ist, was sich damals zugetragen hat; ein Teil davon ist bei mir in Vergessenheit geraten oder habe es nicht mitbekommen. Ich bedauere: Von dieser Zeit gibt es keine Bilder. Wer hat schon einen Fotoapparat gerettet? Wenn ja, wo gab es einen Film zu kaufen? Die Entwicklung der Filme mit Bildabzügen wäre entfallen.
Flucht
Anfangs muß ich jedoch auf die letzten Wochen in unserem Schulhaus zurückkommen. Um das Inventar des Klassenzimmers in der Scheune unterbringen zu können, bekam die dort abgestellte Dreschmaschine der Dreschgenossenschaft einen anderen Standort. Auf den Fußboden unserer "Schulstube " (bei uns früher die Bezeichnung für das Klassenzimmer) legte man 2 Reihen Stroh aus. Das war nun das Nachtlager für 1 Nacht von Flüchtlingen, die schon Tage eher ihrem Heimatort den Rücken kehren mußten. Ähnlich mag es bei Grafs, der Brauereigaststätte, im Saal ausgesehen haben. Schulunterricht von nun an: Fehlanzeige.
Jeden Abend und am darauffolgenden Morgen herrschte in der Küche der Lehrerwohnung reger Betrieb, denn etwas Warmes sollten diese Leute zu sich nehmen dürfen. Es dauerte jedoch nicht lange , da kamen von der Wehrmacht einige Herren, sie entfernten das Stroh und auf der Straße vor dem Haus stand ein LKW. Dieser brachte eine für mich (damals 12 Jahre alt) unvorstellbare Menge an Kastenbrot (Kommißbrot) und auch sehr viele gefüllte Kartons. Letztere enthielten Margarine in Würfelform sowie Fleisch in Dosen. Vor der Schule stationierte man eine Feldküche
(im Volksmund: Gulaschkanone).
Jetzt wurden wir im Schulhaus aufgeklärt, daß es sich bei dem allen um die Verpflegung für sowjetische Kriegsgefangene handelt, die - aus Posen kommend - in Richtung Westen durchgeschleust werden. Zuerst transportierte man Kriegsgefangene der Alliierten Streitkräfte auf LKW's ohne Halt durch unser Dorf . Am späten Nachmittag und gegen Abend kamen zu Fuß die sowjetischen Gefangenen. 12 Mann erhielten jetzt als Tagesverpflegung: 3 Brote, 2 Dosen Fleisch, 3 Würfel Margarine und von der Feldküche warmen Tee . Soviel ich noch weiß , übernachteten sie in den Scheunen vom Rittergut und ein Teil wohl unter freiem Himmel auf der angrenzenden Koppel. Diese Aktion wiederholte sich an den darauf folgenden Tagen. Beim Abzug dieses Verpflegungskommandos übergab der eine Soldat von den übriggebliebenen Broten einige unserer Mutter mit den Worten: "Nehmen sie diese mit auf die Flucht, in 14 Tagen essen wir Baumrinde. Überhaupt, nehmen sie zu essen mit, was geht.“
Das Klassenzimmer stand nicht lange leer, da bezogen es zwei Soldaten eines Panzerreparaturkommandos. Auf dem Weg von der Schmiede zu Meißners stand jetzt ein Panzer zur Reparatur. Ob dieser jemals noch zum Einsatz kam, kann ich nicht mehr sagen.
Etwa zur selben Zeit weilte noch eine Gruppe Soldaten der Deutschen Wehrmacht in unserem Dorf. Ihre Unterbringung erfolgte in der Brauereigaststätte Graf. Sie hatte die Aufgabe, einen Minengürtel entlang der Neiße zu legen. Wie sich später herausstellte, handelte es sich dabei um zwei Arten von Minen.
Inzwischen war auch uns klar, daß die Flucht bevorsteht. Man hatte schon begonnen, das Federvieh zu schlachten, um einzuwecken oder zu verspeisen. Wagen - bevorzugt solche mit Gummibereifung - erhielten aus Latten ein Dach gezimmert, darüber eine Plane gespannt. Auch ein Wagen der Brauerei mit der Aufschrift "Brauerei Graf Wendisch-Musta" befand sich darunter . Die Zuteilung, wer wo aufladen durfte, oblag unserem Bürgermeister Emil Tschöpel.
Der Auftrag von dem Soldaten bezüglich Proviantmitnahme brachte unsere Mutter auf die Idee, die Filmkiste (Inhalt Vorführgerät und Umroller) von der Schule zu entleeren, um darin Eingewecktes (dazwischen Kleidung) unterzubringen. Diese Kiste besaß ein Vorhängeschloß, was in Skerbersdorf noch einen guten Dienst versah; doch davon später.
Nun schrieben wir den 20. Februar 1945, d. h. zum Schreiben sind wir gar nicht mehr gekommen. Gegen 4.00 Uhr früh wurden wir geweckt. Unsere Mutter hat in aller Eile zwei Säcke mit Federbetten gefüllt, die noch 'mitgingen'. Die Wagen waren schon beladen. Aber die Fahrräder hatten noch ihr Gepäck zu bekommen. In einer der Taschen verstaute unsere Mutter u.a. die Bratpfanne (ovale Form mit 2 Griffen u. Deckel) sowie den Wecker. Beide Gegenstände sind heute noch vorhanden. Die Pfanne im Gebrauch im Haushalt meiner Schwester , der Wecker als Andenken an "derheeme" bei mir.
Da ich von den bepackten Fahrrädern berichte: Hier kommt mir das Rad von unserer Annemarie Lehmann ins Bild . Sie nahm den sogenannten Wecktopf mit. Darin befand sich ihr Federbett. So ganz paßte das Bett vom Volumen her nicht in den Topf , wir konnten das rote Inlett sehen. Überhaupt hatte sie wohl das dabei, was sie aus Platzgründen am Rad unterbrachte.
So gegen 8.30 Uhr setzte sich der Treck in Richtung Bad Muskau in Bewegung. Für unsere Landwirte war das Verlassen unseres Dorfes wohl der allerschlimmste Augenblick. Sie mußten ihre Tiere angekettet zurücklassen. Wissend auch, ab jetzt wird nicht mehr gefüttert und die Kühe nicht mehr gemolken. Nur den Zugtieren war ein Überleben beschieden, denn sie mußten die Wagen ziehen. Erwähnt sei, daß ältere Leute und Kinder auf den Wagen sitzen durften.
Auf unserer "Reise'', es mag vor oder nach Schrothammer gewesen sein, überholte uns ein Panzerspähwagen von der Wehrmacht. Das war die letzte Fahrt von zwei gefallenen Soldaten. Man sah sie, zum Teil zugedeckt, auf dem Wagen liegen. Ihre letzte Ruhestätte der Friedhof Muskau-Berg.
Nach Hermsdorf, so kurz vor Lugknitz, der nächste Schreck. Ein sowjetischer Tiefflieger über uns. Schnell suchten wir im nahe gelegenen Wald Schutz. Das Flugzeug drehte jedoch ab und die abgegebenen Geschosse haben kein Unheil angerichtet. Als wir dann durch Bad Muskau zogen und die Muskauer auf der Straße den Wagen mit der Aufschrift "Brauerei Kurt Graf Wendisch-Musta“ sahen, erschraken sie sehr. "Jetzt müssen wir auch gehen" und so ähnlich lautete ihr Kommentar.
Zur ersten Rast hielt unser Treck in Muskau-Berg am Friedhof. Die Tiere bekamen ihr Futter sowie Wasser und bei Lachmanns gab's kalte Hähnchenteile mit Brot. Im Laufe des Abends wurde Wolfshain erreicht. Die Unterbringung erfolgte in einem Saal. Am nächsten Morgen hat uns Herr Müller eingeholt. Er war der Melkermeister vom Rittergut und in Birkfähre zurückgeblieben. Herr Müller hat abends, am 20. Februar, die Rinder von ihren Ketten befreit und die Stalltüren geöffnet.
Er mußte nun mit ansehen, wie das gesamte Dorf ein Raub der Flammen wurde, angezündet von Soldaten der Wehrmacht. Diese Kunde überbrachte uns Herr Müller am Morgen, dem 21. Februar 45. Ob ich, damals ein Mädel von 12 Jahren, das so richtig begriffen habe, weiß ich heute nicht mehr.
Am 3. Tag erreichten wir Annahütte. Lachmanns bezogen Quartier bei einer Familie und der Treck blieb für 3 Tage. Dort konnten wir eines Mittags die Nachrichten hören. Und die begannen etwa so: ''Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt. Ein Durchbruch der Front durch die sowjetische Armee bei Birkfähre konnte verhindert werden“.
Die weiteren Orte unserer Übernachtungen sind mir entfallen. Ich weiß nur noch, in Meißen überquerten wir die Elbe und erreichten eines Tages Waldheim-Richzenhain in Sachsen. Hier kam das Angebot vom Bürgermeister zu bleiben, man müsse sowieso Flüchtlinge aufnehmen. Jedenfalls fanden alle bei Familien Unterkunft und nicht in einem Massenlager. Auch unsere Zugtiere konnten in Ställen bei den umliegenden Bauern eine vorübergehende Bleibe finden. Das trug sich an einem Tag Anfang März 1945 zu, denn Datum oder Wochentag war uns so ziemlich egal.
In Hartha, Nachbarstadt westlich von Waldheim, lagerte von der Wehrmacht Bekleidung für die ''Kriegsmarine“. Die Tore dieses Lagers öffnete man und jeder holte sich, was er tragen konnte. Unsere Mutter kam mit 2 Mänteln und 2 Anzügen daher. Später in Skerbersdorf wurden die 2 Mäntel aufgetrennt. Daraus entstanden aus dem Oberstoff 2 Damenmäntel und vom Futter (Wollstoff) 2 Kleider, eines davon mein Konfirmationskleid. Sehr begehrt die Rollkragenpullover. Mit irgendeinem farbigen Garn stickte sich die Trägerin ihr Monogramm darauf. Heute sagt man dazu: Aufgepeppt! Der Besuch einer Schule fiel auch in Waldheim für uns aus.
In Richzenhain gab es einen holzverarbeitenden Betrieb. Uns wurde berichtet, dort sind einst Ladeneinrichtungen angefertigt worden. Man hat während der letzten Kriegswochen in den Räumen ein Lazarett für Soldaten eingerichtet. Nun rückten für Waldheim die Fronten von zwei Seiten heran, im Osten die Rote Armee, im Westen die Amerikaner. Hartha mußte Granatbeschuß von den US-Streitkräften über sich ergehen lassen. Die Einschläge hörbar. Die Amerikaner gaben sich mit der Einnahme von Hartha zufrieden, jedoch die Russen kamen immer näher. Damit nun nicht die im Lazarett liegenden deutschen Soldaten in die Hände der Rotarmisten fallen, ging der Bürgermeister nach Hartha, um bei den Amis die Besetzung von Waldheim zu erbitten. Das taten sie dann auch - leider nur bis zu dem Fluß Zschopau -, ohne daß nur ein Schuß fiel. Am Abend des gleichen Tages rückten die Sowjets im anderen Stadtteil (rechte Uferseite der Zschopau) von Waldheim ein. Die Bewohner hatten viel zu ertragen. Jedenfalls die Verwundeten waren gerettet, aber wo sie hingebracht worden sind, entzieht sich meiner Kenntnis.
Der Krieg war für uns nun zu Ende und die Versorgung zusammengebrochen. Da bekanntlich die Siegermächte noch vor der Kapitulation unseres "Reichs'' Deutschland in die Besatzungszonen aufgeteilt haben, zog sich die US-Armee zurück. So war auch Sachsen nun ganz sowjetische Besatzungszone. Wir wollten wieder heim; hatten sogar vor, in Kellern zu hausen. An eventuelles Unterkommen in unseren Nachbardörfern wurde gedacht. So fuhren erst einmal von Waldheim aus Emil Tschöpel, Walter Warko und Herbert Lehmann nach Skerbersdorf, um dort um Aufnahme zu ersuchen. Dieser Bitte wurde entsprochen. Man zog sogar in Erwägung, einen Steg durch die Neiße zu ziehen, um dann den Wiederaufbau von Wendisch-Musta zu bewerkstelligen.
Am 30. Mai 1945, dieses Datum hat unsere Mutter festgehalten, haben wir unsere "Rückreise'' angetreten. Mir sind die Orte – mit Ausnahme von Mulkwitz – entfallen, in denen wir nächtigten. Auf jeden Fall wurde uns gesagt: "Meidet die Hauptstraßen, ihr könnt sonst ausgeplündert werden“. Jedoch das Befolgen dieser Warnung hat nichts genützt. Gleich am ersten Tag (vormittags) haben sich sowjetische Soldaten unserer Fahrräder bedient. Auch mein Fahrrad fand einen Abnehmer, obwohl ein Rad für Kinder von 6 - 12 Jahren. An die Lenkstange hatte ich, in eine Decke gewickelt, meine Puppe gebunden.
Der Soldat zog ein Messer, zerschnitt die Schnur, übergab mir das Bündel und setzte sich auf's Rad. Seine Füße standen dabei auf dem Erdboden. Damit fahren – kein Gedanke daran. Auch Großvater durfte sein Rad abliefern. Nur das Fahrrad unserer Mutter fand keinen Interessenten, dem Vorderrad fehlte die Luft. Einige Tage später war sie es auch los. Am allerschlimmsten wirkte sich die Wegnahme des Ochsengespanns, des Traktors und der Austausch der Pferde aus. Abgehalfterte Tiere bekamen wir als Ersatz, aber es gab keinen Ersatz für das Ochsengespann und den Traktor. Jedenfalls grenzt es an ein Wunder, daß wir so einigermaßen bis Mulkwitz gekommen sind.
Nicht zu vergessen ist, daß sehr viele Brücken, ob für Straße oder Bahn, von der Wehrmacht vor Kriegsende gesprengt worden sind. So hieß es: ''Riesa hat eine Behelfsbrücke über die Elbe“. Folglich ging's zurück über Riesa und nicht über Meißen. Man muß auch wissen, daß während des letzten Weltkriegs viele Zwangsarbeiter und -Arbeiterinnen aus Polen, Weißrußland und der Ukraine in Deutschland tätig sein mußten. Diese Leute – jetzt freie Menschen – kehrten in Zügen in ihre Heimat zurück. Die Bahnbrücken gesprengt und so war es für sie nur möglich, auch die Behelfsbrücken als Fußgänger zu benutzen. Es stand dann am Bahnhof der anderen Uferseite ein Zug bereit, der sie zum nächsten Fluß und einem Bahnhof brachte, wo wiederum eine Brücke vorhanden sein mußte. Man kann sich ungefähr vorstellen, wie lange deren Rückfahrt in die Heimat gedauert hat. Riesa war also ein Knotenpunkt nicht nur für die heimkehrenden Zwangsarbeiter , sondern auch für die heimwärts ziehenden Trecks. Die gemischten Gefühle unserer Erwachsenen und auch von uns Kindern beim Überqueren der Elbe möchte ich heute nicht mehr aufrühren. Allen stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben, die andere Uferseite heil erreicht zu haben.
Nun kamen wir nach Mulkwitz bei Weißwasser. Hier stand am nächsten Morgen ein Pferd nicht mehr auf. Einen Tierarzt rufen? Völlig sinnlos. Wo wäre einer gewesen? Also hieß es: Wir müssen warten, bis es wieder aufsteht und das dauerte eine Woche. Einige Leute machten das nicht mit, gelangten in Bad Muskau noch über die Neiße und fanden in Eichenwald/Dubrau eine Unterkunft. Das hatte jedoch zur Folge, daß – als die Polen mit der von ihnen so bezeichneten „Umsiedlung“ begannen – sie zu den ersten gehörten, die diese Bleibe wieder verlassen mußten. Dabei noch das, was sie bis dahin ihr Eigen nennen durften, in Lugknitz von den Polen genommen wurde. So erging es allen, die unter die Umsiedlung fielen. Das ist jedoch bekannt.
Rückkehr
Nach dieser einen Woche Aufenthalt in Mulkwitz zog der Hauptteil unseres Trecks nach Skerbersdorf, ein Teil fuhr ins benachbarte Pechern weiter. Die drei Lachmanns mit dem Großvater Hermann König wurden von Schusters aufgenommen. Jenen Schusters, bei denen es sich bis 1938 um die Bäckersleute in Birkfähre handelt.
Ab Mai 1945, nach Ende des 2. Weltkrieges, herrschte in ganz Deutschland furchtbare Not. Große Teile von Städten zerbombt oder durch Granatbeschuß zerstört. Der Zusammenbruch der Lebensmittelversorgung zeigte sich als der größte Härtefall. Menschen starben an Hunger. Zu allem brachen Ruhr und Typhus aus, den ebenfalls Menschenleben zum Opfer fielen. So auch in Skerbersdorf. Da ein Pfarrer für die Beerdigungen nicht zur Verfügung stand, trat jemand an unseren Großvater heran mit der Bitte: ''Herr König, können sie nicht ein paar Worte und ein Gebet sprechen sowie ein Lied anstimmen?" Als schwarzer Anzug diente ein Marineanzug aus dem bereits erwähnten Lager in Hartha. Irgendwie ist es unserer Mutter gelungen, zu schwarzen Knöpfen zu gelangen, um die glänzenden Messingknöpfe mit dem Anker von der Jacke auszutauschen.
Fast in jeder Gemeinde befand sich eine sowjetische Kommandantur. In Skerbersdorf waren das 5 Mann, einer davon der Kommandant. Ihre Unterkunft erfolgte bei Sergons, als Köchin mußte Frau Petro heran. Das Amt des Bürgermeisters oblag den Händen von Herrn Heinrich Huschto. Bis Kriegsende lehrte an der Schule Herr Stephan, der mit seiner Familie nach Naumburg/Saale flüchtete. Er benachrichtigte die Gemeinde, daß er nicht mehr nach Skerbersdorf zurückkehrt. Inzwischen bekam Herr Huschto davon Kenntnis, daß unser Großvater von Beruf Lehrer ist. Es war der Wunsch von Herrn Huschto, unser Großvater soll den Unterricht in Skerbersdorf wieder aufnehmen und so erhielten wir die Genehmigung, ins verwaiste Schulhaus einzuziehen. Möbel gab es nur ganz wenige, doch dafür sehr viele zerbrochene Fensterscheiben – auch die der Haustür – und keinen Haustürschlüssel. Und jetzt hatte unser Großvater eine Lösung. Das Vorhängeschloß von der Filmkiste aus Birkfähre kam zum Einsatz. Einen Schraubenzieher und einen Bohrer mußte er sich dazu ausleihen, denn so etwas befand sich natürlich nicht im Fluchtgepäck.
Und jetzt komme ich auf die zerbrochenen Fensterscheiben zurück. Gottseidank handelte es sich um Kastenfenster. Durch Austausch von den Fensterflügeln gelang es, einige Räume wind- und wasserdicht zu bekommen. Das sah dann so aus: Bei einem Fenster waren die Scheiben der Außen- bei einem anderen die Scheiben der Innenflügel ganz.
Eine weitere Aufgabe galt es zu bewältigen. Die herumliegenden Glassplitter im Hof aufzulesen. Das geschah am besten während der Morgen- oder Abendstunden. Infolge der schräg stehenden Sonne ''blitzten'' sie hervor und waren deshalb besser erkennbar. Diese Aktion mußte schon deshalb geschehen, da bereits der Sommer ins Land gezogen war. Barfußlaufen wäre sonst nicht infrage gekommen.
Inzwischen wollte man wissen, wie sieht es in unserem ehemaligen Dorf Birkfähre/Wendisch-Musta aus. Fast alle unsere ehemaligen Bewohner hatten Sachen vergraben und an denen bestand großes Interesse. Man wußte jedoch, daß sich gleich hinter der Neiße der Minengürtel befindet. Zwei Arten gab es da. Einmal die Kastenminen von der ungefähren Größe 30 x 30 x 10 cm, deren Hülle aus Holz bestand. Wer eine solche Mine betrat, verlor seinen Unterschenkel. Viel, viel schlimmer die Wirkung der anderen Ausführung. Wir nannten sie "Flaschenminen''. Zwei Drähte – vom Verschluß (einer nach rechts, der andere nach links) der Mine kommend – waren an kleinen Pfählen ca. 20 cm hoch befestigt. Wer nur einen dieser Drähte berührte, brachte die Mine zum Explodieren und mußte sein Leben hingeben. Dank sei Herrn Kurt Ladusch, einem Skerbersdorfer. Er konnte einen Teil der Minen entschärfen, jedoch beileibe nicht alle.
Gerhard Himpel, sein Heimatort war unser Nachbardorf Eichenwald/Dubrau, hat aus leeren Fässern und Holz ein Floß gezimmert, das als Fähre diente. An der einen Seite (jeweils an den Ecken) besaß das Floß Stahlseile. Das eine Seil befestigte man auf der Uferseite von Birkfähre, das andere Seil, auf der Uferseite von Skerbersdorf. Bei Fährbetrieb wurde das Skerbersdorfer Seil gelöst und ein Pferd daran gespannt. Dies gehörte Herrn Walter Warko. Mit der Strömung bewegte sich das Floß auf die Birkfährer Uferseite, zurück auf die Skerbersdorfer Seite wurde es stromaufwärts vom Pferd gezogen. Das ''Gefährt'' besaß keine Randerhöhung, so daß die Oberfläche manchmal Wasser abbekam und dadurch glitschig wurde.
Nun konnten wir, Mutter und ich, zum ersten Mal wieder Birkfährer Boden betreten und die Ruinen betrachten. Schlimm hatten wir uns das schon vorgestellt, aber so schlimm denn doch nicht. Zuerst begaben wir uns auf das Schulgrundstück. In unserem Wohnzimmer lehnte der Metallrahmen (der Rest vom Klavier) an der Wand; in der Küche waren noch der Herd und der Elektroherd (jedoch unbrauchbar) vorhanden. Dem Feuer standgehalten hat das Kellergewölbe. Die russischen Soldaten haben die Kellerraume als Unterstand genutzt, denn die Treppe war vom Schutt befreit. Im Keller war doch die Waschküche und da fanden wir tatsächlich noch den Korb vor, in dem sich einst das Brennholz für den Waschkessel befand. Über das Schulgrundstück lief ein Schützengraben.
Unsere Mutter hatte das gute Geschirr im Hühnerstall vergraben. Aber da Dachziegelschutt darauf lag, machte es keinen Sinn, danach zu graben. Außerdem bestand die Gefahr, daß sich dabei Geräusche ergeben. Und wenn gerade eine Streife der Polen vorbeigekommen wäre, hätte das schlimm ausgehen können. Wenn nicht die Polen beim Abtragen der Ruine darauf gestoßen sind, so liegt es heute noch drin.
Wir nahmen den Korb aus der Waschküche mit und steuerten den Waldweg nach Lichtenberg an. Dort oben, welche Entdeckung. Die sowjetischen Soldaten hatten einige Unterstände angelegt. Das Inventar bestand in erster Linie aus Sofas aus der Jugendstilzeit, jedoch die Beine abgesägt. Diese Sitzmöbel haben sie sich wohl aus unseren Nachbardörfern Wällisch, Eichenwald, Mühlbach etc. geholt. Als ''Tapete'' für Decken und Wände diente Bettwäsehe. Und was erblickten wir noch?Unsere Badewanne, auch sie hatte den Brand in der Waschküche überstanden. Sie muß wohl die Aufgabe einer Pferdetränke erfüllt haben. Im Umkreis sahen wir die Hinterlassenschaft dieser Tiere liegen.
Jetzt füllten wir den Korb mit Pilzen. Das Suchen erübrigte sich vollständig, denn man hätte beinahe die Pfifferlinge mit dem Rechen zusammen rechen können. Und die Steinpilze riefen uns zu: ''Nehmt uns mit, wir sind alle nicht madig“. Ob sich so ein "Pilzreichtum“ noch einmal wiederholt hat?
Eines Tages entdeckten die Polen das Floß, trennten das Seil auf der Seite von Birkfähre ab und somit hob sich die Verbindung auf.
Es gab noch eine zweite Möglichkeit, auf die andere Neißeseite zu gelangen. Herr Hipko im Bienengarten (Ortsteil von Skerbersdorf) besaß einen Kahn. Gegenüber dem Bienengarten lag Kutschig. Wir, Mutter, Großvater und ich, ließen uns einmal von ihm übersetzen.
Zu diesem Zeitpunkt standen die Häuser in Kutschig noch. Im Garten vom Anwesen Berno besuchten wir das Grab des Ehepaares Krautzig. Krautzig's sind, statt sich dem Treck anzuschließen, zu Herrn Berno gegangen und haben dort nach dem Zusammenbruch den Freitod gewählt. Auch Herr Berno ist geblieben, wurde aber sofort nach Einmarsch der Russen von denen mitgenommen. Man ließ ihn nach einiger Zeit wieder frei.
Wir zogen es vor, den Weg nach Birkfähre im vorgefundenen Schützengraben zu nehmen. Erstens, um bei einer eventuellen Streife der Polen in Deckung gehen zu können und zweitens brauchten wir hier keine Angst vor Minen zu haben. In diesem Schützengraben fand unser Großvater ein Sägeblatt von einer Bügelsäge. Seine Freude darüber wird mir immer in Erinnerung bleiben. Ein paar Tage später bekam das Sägeblatt einen Bügel von einem Ast eines Haselnußstrauches. Jetzt besaß er eine eigene Säge, das Ausleihen entfiel.
Nach Erreichen von Birkfähre stellten wir fest: Die Brauerei, die Brennerei und das Wohnhaus (für uns „das Schloß“) der Familie Berghoff-Ising wurde nicht ''abgefackelt" sondern gesprengt. Wieder zurück nach Skerbersdorf sind wir durch die Neiße gewatet.
Jetzt war überall das Wintergetreide reif zur Ernte. Auch jenes in Birkfähre und wir wollten das Korn haben. Im Einvernehmen mit dem russischen Kommandanten wurde ein Steg errichtet. Ich vermute, er hat das mit den Polen abgesprochen, denn die haben den Steg geduldet. Einige Männer waren mit dem Mähen (per Sense) beschäftigt, Frauen banden die Garben. Wir Kinder trugen letztere auf die Skerbersdorfer Seite. Bei der Oberförsterei stellte man die zu Kornpuppen auf. Von dem Korn sahen wir allerdings nichts. Nach dem Dreschen haben es uns die Russen genommen. Nur ein paar Brote gab es als Gegenleistung. Jedoch über das Ährenschneiden war es uns möglich, zu Korn zu kommen.
Bei den vorgenannten Arbeiten mußte unbedingt auf Minen geachtet werden. Leider konnte man die Minen nicht immer erkennen. So haben Frau Margarete Krause und Herr Bernhard Tschöpel je einen Unterschenkel verloren. Wer nun glaubt, man hat einen Sanitätswagen mit Notarzt rufen können, der irrt. Erst einmal mußten die Verletzten auf die Skerberdorfer Seite getragen werden. Auf einem mit etwas Stroh bedeckten Wagen, davor zwei Pferde gespannt, wurden die Verunglückten nach Spremberg (Entfernung etwa 30 km) gefahren, ohne Schmerzbetäubung versteht sich.
Der genannte Steg mußte am 15. August 45 wieder abgebaut sein.
Jetzt standen wir vor der Frage, wie bekommen wir das Korn aus den abgeschnittenen Ähren? Das ging nur über Ausstreifen jeder einzelnen Ähre mittels eines Messerrückens, also eine mühsame Arbeit. Und da mischten sich auch Grannen unter das Korn. Deren Beseitigung mittels Wind erfolgte so: Auf Rasen wurde ein Tuch ausgebreitet und man ließ das Korn auf das Tuch rieseln, dabei blies der Wind die Grannen beiseite. Etwas Wind mußte schon wehen.
Die zweite Frage stellte sich, wo bekommen wir das Korn gemahlen? Da gab es Gottseidank in Skerbersdorf eine Familie – den Namen weiß ich nicht mehr –, die eine Schrotmühle besaß. Sie war ungefähr dreimal größer als eine damals übliche Kaffeemühle und auf einem Brett montiert. Der Mahlvorgang erforderte schon einige Kraft. Auch wir waren froh, daß wir die Mühle ausleihen durften. Solange der Vorrat reichte, gab's zum Frühstück Schrotsuppe.
Ab wann im Saal der Gaststätte Hubatsch (jetzt: Zur Eiche) wieder Tanzveranstaltungen stattfanden, ist mir entfallen. Es hieß damals: "Es spielt Schulze Maxe Karle“. Gemeint waren damit die Herren Max Schulz und Karl Scholz. Zu den weiteren Musikanten zählten Herr Heinrich Hänsel und zwei Herren aus Weißkeißel. Die größeren Kinder, so auch ich, fanden sich außerhalb des Saales an den Fenstern zum Mithören der Schlager ein. Für uns doch die einzige Möglichkeit, der Musik zu lauschen, denn wir lebten radiolos. Jedoch bei völliger Dunkelheit war bei mir das Erscheinen zu Hause Pflicht.
Im Januar 1948 verließ ich Skerbersdorf, und damit endet auch mein Bericht.
Bevor ich zum Schluß komme, möchte ich mich bei Herrn Walter Petro bedanken. Bei einigen Punkten konnte er mir ganz genau sagen, wie es gelaufen ist.
Doch ganz zum Schluß geht ein besonderer Dank an alle Skerbersdorfer. Wir wurden aufgenommen, als hätten wir schon immer zu ihnen gehört. Leider haben Flüchtlinge in anderen Landesteilen Deutschlands ganz andere Erfahrungen machen müssen.
München, im September 2013
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